Leseprobe INDABA 11/96

Geheimnisvolle, gefährdete Stone Town

Wie ein Märchen aus 1001 Nacht erscheint vielen Touristen die historische Altstadt von Zanzibar Town in Tanzania. Nach Jahrzehnten des Verfalls und trotz der wirtschaftlichen Liberalisierung hoffen Experten auf eine denkmalpflegerisch verantwortungsvolle Erneuerung. Walter Sauer berichtet.

Stone Town, die Bezeichnung für das historische Zentrum von Zanzibar Town, ist zum Synonym für die Hauptstadt der tanzanischen Inselrepublik Zanzibar im gesamten geworden. Stone Town - das ist das Labyrinth der zahllosen engen und verwinkelten Straßenzüge zwischen dem ehemaligen Sultanspalast und dem Fischmarkt; das sind die kunstvoll aus Holz geschnitzten orientalischen Türen, die geheimnisvoll duftenden indischen Läden und die zinnenbekrönten arabischen Paläste, deren Bewohner von steinernen Fassadenbänken - den sogenannten barazas - aus das geschäftige Treiben vor ihren Füßen verfolgen: vollbepackte Händler auf laut klingelnden Fahrrädern, ausrufende Kebab- und Samoosa-Verkäufer, dahineilende halbverschleierte Frauen, Schriftgelehrte in weißen Kaftanen, Kinder in Schuluniformen, ganz vereinzelt Touristen. Fünfmal am Tag, mit halb sechs Uhr morgens beginnend, hängen die Gesänge der Muezzins über der Stadt, hin und wieder von den Schellen der hinduistischen Tempel oder den Glocken der wenigen christlichen Kirchen begleitet. Wenn sich abends dann der Wind in den Vorhängen der vergitterten Alkoven fängt und die letzten Sonnenstrahlen die Palmen an der Hafenpromenade streifen, werden die Träume von Tausendundeiner Nacht Wirklichkeit.
Zweifelsohne zählt Stone Town zu den beeindruckendsten und noch immer besterhaltenen urbanen Sehenswürdigkeiten im südlichen und südöstlichen Afrika. Natürlich gibt es daneben noch "die andere Seite" von Zanzibar Town: Ng'ambo, früher diesseits eines brückenüberspannten Meeresarms gelegen, der (an der Stelle der heutigen Creek Road) bis vor wenigen Jahrzehnten die Stone Town von dem Rest der Insel trennte. Von arabischen Plantagenbesitzern zur Unterbringung der freigelassenen Sklaven gegründet, reihen sich ebenerdige, wellblechgedeckte Swahili-Häuser die Ausfallstraßen Ng'ambos entlang, in denen zwischen Bushaltestellen und Fahrradwerkstätten zahllose informelle Marktstände alles feilbieten, was für den Alltag erforderlich ist: Lebensmittel, Textilien, Möbel... Und natürlich unterscheiden sich die kommunalpolitischen Herausforderungen, vor denen die Stadtverwaltung von Zanzibar Town im gesamten steht, nicht grundsätzlich von denjenigen anderer afrikanischer Städte: Sicherung der Energie- und Wasserversorgung, Abfallbeseitigung, eine unkontrollierte Verkehrsexplosion, fehlende Arbeitsplätze im formellen Sektor, Finanzierungsprobleme im Gesundheits- und Schulbereich. Zusätzlich jedoch gelangt das öffentliche Bewußtsein in Zanzibar immer stärker zur Erkenntnis - und Akzeptanz - noch eines weiteren Problemfelds: der dringenden Notwendigkeit zur denkmalpflegerischen Erhaltung und Erneuerung der Stone Town.

Nicht immer hatte die Stone Town als schützenswert gegolten. Die ersten Jahre nach der Revolution von 1964, die zum Sturz des Sultanats und der Vertreibung der zumeist aus dem Oman stammenden Großgrundbesitzerklasse (sowie zur Vereinigung der Insel mit dem Festland von Tanganyika) geführt hatte, waren durch die bewußte Abkehr vom Feudalismus und durch kulturrevolutionäre Vorstellungen nach maoistischem Vorbild gekennzeichnet gewesen. Während die Paläste der Abusaidi-Dynastie, so noch vorhanden, im ganzen Land geplündert und der Vernichtung preisgegeben wurden, stand für Zanzibar Town stadtplanerisch die Entwicklung Ng'ambos zu einer sozialistischen Musterstadt im Vordergrund; an beherrschender Stelle wurden damals von der seinerzeitigen DDR die sogenannten Michenzani Flats, heute weitgehend desolate Wohnblöcke aus Beton-Fertigteilen, errichtet. Um die Erhaltung oder gar Erneuerung der Stone Town, als Stadtteil der früheren Elite und somit als Symbol der gestürzten reaktionären Gesellschaftsordnung geltend, kümmerten sich Regierung und Stadtverwaltung nur wenig. Viele der historisch wertvollen Gebäude verfielen.
Jahre später erst führten das Nachlassen des ideologischen Eifers und der beginnende Tourismus zu einer schrittweisen Neubewertung der Vergangenheit und ihres kulturellen Erbes. 1979 wurden die ersten historischen Monumente unter Denkmalschutz gestellt, darunter die in den 1870er Jahren von Sultan Bargash ibn Said für den öffentlichen Gebrauch errichteten Hamamni-Bäder. 1985 wurden die Stone Town Conservation and Development Authority (STCDA, heute eine Abteilung des Ministry of Water, Construction, Energy, Lands and Environment) ins Leben gerufen, drei Jahre darauf die Stone Town insgesamt unter Denkmalschutz gestellt. 1992 versammelte eine internationale Konferenz zum ersten Mal Historiker, Stadtplaner und Konservatoren aus aller Welt, die sich mit der Frage der Erhaltung und Revitalisierung der Altstadt befaßten; im selben Jahr startete der Aga Khan Trust for Culture eine großangelegte Studie, die nicht nur - seit Jahrzehnten erstmals wieder - einen neuen Grundrißplan der Stone Town erstellte, sondern auch ihre sämtlichen 1713 Bauwerke mitsamt ihrem Bauzustand, architektonischen Besonderheiten und Problemen, den Besitzverhältnissen, Haushaltsgrößen und Wohnverhältnissen sowie ihrer Nutzungsart und Verkehrsanbindung EDV-unterstützt erfaßte.

Freilich sind die genaue Bedeutung des Begriffs "Denkmalschutz" im zanzibarischen Recht und ebenso die Kompetenzen der STDCA bis heute umstritten. Das Gesetz sei zwar vorhanden, bedauert der oberste Stadthistoriker und Professor für Geschichte an der Universität von Dar es Salaam, Abdul Sheriff, im Gespräch mit dem Autor; es werde jedoch ständig mißachtet, und die Regierung verfüge kaum über die Möglichkeit, seine Geltung durchzusetzen. Die Stone Town sei überbevölkert (Obdachlosigkeit ist in der Tat ein zunehmendes Problem), die abgewohnten Häuser würden nur unzureichend renoviert, beschädigte Dächer oder Wasserleitungen nicht oder nur mit schlechten Materialien erneuert, Dachrinnen oder Kanalsysteme nicht gereinigt; hingegen würden freie Flächen unkontrolliert verbaut - selbst eine Moschee habe man abgerissen -, und viele der neuerrichteten oder auch unsachgemäß renovierten Gebäude verstießen in punkto Proportion und architektonischer Gestaltung entschieden gegen den historischen Gesamteindruck der Stone Town.
Allerdings scheinen für diese Misere nicht nur fehlende behördliche Kompetenzen verantwortlich zu sein. Zugleich mangelt es auch an politischem Willen und/oder Alternativen. Innenpolitisch kommt der Auseinandersetzung zwischen der traditionellen Regierungspartei CCM und der in der CUF vereinigten islamischen Opposition - der vermutlichen Wahlsiegerin von 1995 - naturgemäß Priorität zu (daß die Restaurierungspläne für Stone Town nicht zum Spielball dieser extrem zugespitzten Auseinandersetzung werden, bleibt zu hoffen). Hinzu kommen beträchtliche wirtschaftliche Probleme. Aus eigenem kann das erforderliche (und nach Jahrzehnten des Verfalls auch nicht unbeträchtliche) Kapital zur Sanierung der Stone Town nicht aufgebracht werden, und Regierung und Stadtverwaltung sind vielfach auf die Investitionen ausländischer Tourismuskonzerne oder/und der aus den arabischen Exilländern zurückkehrenden ehemaligen Landlords angewiesen; in beiden Fällen ist Privatisierung bzw. Restitution der Immobilien Voraussetzung, und die beabsichtigte kommerzielle Nutzung steht mit den Erfordernissen eines verantwortbaren Denkmal- bzw. Ensembleschutzes nicht selten in Widerspruch. Politische Öffnung und wirtschaftliche Liberalisierung, die den gesellschaftspolitischen Kurs auch im heutigen Tanzania prägen, führen zu einer Rücknahme öffentlicher Einflüsse auch in Bereichen, in denen sie eigentlich unverzichtbar sein sollten.

Immerhin ist es trotz all dieser Schwierigkeiten bereits zu kleineren und größeren Schritten der Revitalisierung gekommen. Traditionelle Technologien (etwa im Bereich der Lehmbauweise oder des Tischlerhandwerks) wurden mit internationaler Hilfe und Anerkennung wiederbelebt, mehrere künstlerisch wertvolle Gebäude sorgfältig restauriert. Geradezu als Musterbeispiel dafür gilt das stilgerecht wiederhergestellte Old Dispensary, ein 1887 anläßlich des Goldenen Regierungsjubiläums der britischen Königin Victoria von dem in Zanzibar und Bombay tätigen Geschäftsmann Tharia Topan gestiftetes Krankenhaus der indischen Community. Weiters sind für die kommenden Jahre die Renovierung des von Sultan Bargash 1883 errichteten House of Wonders (des damals nicht nur höchsten, sondern auch ersten mit elektrischer Beleuchtung ausgestatteten Gebäudes auf der Insel) und seine Umgestaltung zu einem Museum geplant; nicht nur an der Waterfront, sondern auch im Inneren der Stone Town sollen historisch bedeutende Ensembles zu Brennpunkten des touristischen Interesses ausgestaltet werden.
Bei vielen Initiativen zur Wiederherstellung der Architektur der Stone Town spielt - wie auch in anderen Ländern mit islamischen Traditionen - der in Genf ansässige und der ismailischen Glaubensrichtung der Schia verbundene Aga Khan Trust for Culture mit seinem Historic Cities Support Programme eine wichtige Rolle. Zwar sind auch kritische Stimmen vorhanden, die sich im besonderen auf die kommerziellen (nicht zuletzt tourismuswirtschaftlichen) Interessen des Aga Khan-Imperiums beziehen, doch werden die Verdienste des Trusts um die Revitalisierung der historischen Altstadt von Zanzibar weitgehend anerkannt. Parallel dazu erhoffen sich viele Experten eine Besserung der Situation durch die beantragte Erklärung der Stone Town zu einem "Erbe der Menschheit" durch die UNESCO, wodurch es möglich werden sollte, verstärkt internationale Unterstützung zu mobilisieren.
Noch scheint die Absicht der Regierung, den Tourismus als Devisenbringer für die Inselwirtschaft zu entwickeln, dem Interesse an Denkmalschutz und stilgerechter Revitalisierung der allzu lange vernachlässigten Stone Town entgegenzukommen; noch wäre ihre Rettung vor baulichem Verfall ebenso wie vor rücksichtsloser Kommerzialisierung und beginnender Grundstücksspekulation möglich. Daß die Entwicklung in den kommenden Jahren in diese Richtung verläuft, steht zu hoffen.

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URL: http://www.sadocc.at/sadocc.at/indaba/leseproben/1996-11-zanzibar.shtml
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